Gott ist der erste große Gläubiger seiner Schöpfung
Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 07.01.2012
Frau Klapheck, beginnen Sie das neue Jahr schuldenfrei?
Schuldenfrei, also frei von Schuld sein: Das ist für mich eine christliche Vorstellung, mit der ich als Jüdin wenig anfangen kann. Christen sind fixiert auf Schuld und Sühne. Sie verlangen eine Läuterung. Auch die Staatsschuldenkrise, sagen viele heute, müsse zu einer Läuterung im Sinne eines schuldenfreien Haushalts führen. So denke ich als Rabbinerin nicht.
Was bedeutet Schuld für Sie als Rabbinerin?
Im Hebräischen gibt es verschiedene Begriffe für Schuld. Die Schuld des Verbrechers ist eine andere als die finanzielle Schuld oder die Schuld gegen Gott. Generell sind Schuld, Schulden und Schuldgefühle in der jüdischen Religion gar nichts Schlechtes. Das Schuldgefühl hält uns alle zusammen. Gott ist der Eigentümer dieser Welt, er hat die Welt erschaffen, dafür schulden wir ihm etwas. Aber wir schulden auch den Mitmenschen etwas. Das Schuldgefühl ist die Bedingung dafür, dass wir eine Gemeinschaft bilden können.
Schulden sind also ganz normal?
Schulden können sogar positiv sein. Eine Welt ohne Schuld und Schulden ist eine Illusion. Aber natürlich denken wir nicht fatalistisch. Wir müssen die Schulden durch Sühne in etwas Besseres verwandeln. Sühne bedeutet nach der jüdischen Auffassung Veränderung, vom Schlechten zum Besseren. Dafür steht der Sühnetag, der Jom Kippur.
Aber es gibt doch bei allen Menschen einen starken Wunsch, ohne Schuld und Schulden zu leben?
Ein schuldfreies Leben gibt es nicht, obwohl wir alle uns das wünschen – in der Wirtschaft wie in privaten Beziehungen. Aber wäre das gut? Ich glaube nicht. Dann käme Zynismus auf. Menschen ohne Schuldgefühl meinen oft, sie könnten sich alles erlauben. Wir können uns nur von schlechten Schulden zu besseren Schulden entsühnen, aber nicht zu Schuldenfreiheit. Selbst wenn alle finanziellen Schulden einmal utopischerweise getilgt sein sollten: Dann schuldet der Erfolgreiche der Gesellschaft, die ihm den Erfolg ermöglicht hat, und somit auch den weniger Erfolgreichen etwas, das er zum Beispiel mit Steuern ableisten muss.
Welche Moral ergibt sich aus den Schulden?
Weil Gott uns diese Welt zur Verfügung gestellt hat, bleiben wir ihm immer etwas schuldig. Gott ist der erste großer Gläubiger seiner Schöpfung. Wir sind seine Schuldner. Gott hat uns einen Anfangskredit zur Verfügung gestellt. Das ist eine Vorleistung an Vertrauen. Im Hebräischen bedeutet „Ich bin verschuldet“ zugleich „Ich bin verpflichtet“, was durchaus etwas Positives ist. Gerade als emanzipierte Frau habe ich lange gebraucht um einzusehen, dass mich in der jüdischen Religion nicht die Rechte gleichberechtigt machen – sondern die Pflichten, durch die ich erst Mitverantwortung erlange.
Gott ist also der wahre „Lender of last Resort“, bei dem wir stets Kredit bekommen, nicht die Europäische Zentralbank?
Stopp, das müssen wir rabbinisch lösen. Auch die säkulare Zentralbank gäbe es für den religiösen Menschen nicht ohne Gott, der alles geschaffen hat. Wenn die EZB dabei mitwirkt, dass die Gemeinschaft wieder besser funktioniert, dann muss die Bank mit ihrem Geld helfen, und wir müssen alle sühnen, also schlechte Bedingungen zu besseren wandeln. Sollte die EZB dazu beitragen, dass aus schlechten Spannungen bessere Spannungen werden, dann ist das rabbinisch geboten.
Also plädiert die Rabbinerin für eine Vergemeinschaftung der Schulden in Europa. Die Ökonomen sagen, das setze falsche Anreize, weil es ein Leben auf Pump belohnt.
Es gibt ein Sprichwort, das heißt: Jeder Jude bürgt für den anderen Juden. Wenn dadurch die Europäische Gemeinschaft gestärkt wird, ist die Vergemeinschaftung der Schulden rabbinisch geboten. Wir profitieren ja auch von dieser Gemeinschaft. Also bürgen wir auch füreinander. Allerdings ist das nicht ein Freibrief für alle Griechen dieser Welt, sich danach munter zu verschulden und sich auf Dauer als hilfsbedürftiges Opfer zu stilisieren.
In den europäischen Verträgen steht das Gegenteil: Finanzhilfe, Bail Out, ist untersagt.
Genützt hat es nichts. Jetzt stellt sich ja gerade heraus, dass wir, wenn wir ehrlich sind, alle füreinander bürgen müssen – und das Bail-Out-Verbot ein Fehler war.
In der aktuellen Krise werden plötzlich anthropologische Thesen populär, die von einer schlagartigen Entschuldung aller Menschen träumen.
Ich kenne das Buch „Schulden“ von David Graeber natürlich auch, der auf eine schuldenfreie Welt setzt. So eine Idee finden wir auch in der Tora, wo es in jedem fünfzigsten Jahr einen vollkommenen Schuldenerlass gibt und in jedem siebten Jahr, dem Sabbatjahr, einen kleinen Schuldenerlass. Das ist zwar eine schöne Idee, hat aber in der Geschichte nicht funktioniert.
Warum?
Weil in den Jahren vor dem Schuldenschnitt die Schuldner ihre Verträge so gedeichselt haben, dass die Tilgung genau in jenem Jahr angefallen wäre, in dem der Schuldenerlass gewährt wurde. Das wiederum haben die Gläubiger durchschaut und den Kredit verweigert. Weil es keine Kredite gab, sind die Bauern pleitegegangen, sie konnten ihr Saatgut nicht mehr vorfinanzieren. Die gesamte Kreditversorgung, ja die ganze Wirtschaft kam zum Erliegen.
Eine Wirtschaft ohne Kredit kann nicht funktionieren.
So ist es. Aus einem gerechten Gedanken war eine ungerechte Gesellschaft entstanden, sagten die Rabbinen. Denn es entstand Stillstand.
Hat man das Sabbatjahr gestrichen?
Nein, aber Hillel, einer unserer bedeutendsten Schriftgelehrten im 1. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung, hat gesagt, dass die Finanzschulden auch über das Schabbatjahr hinaus gelten sollen und nicht erlassen werden können. Die Sklaven wurden zwar im siebten Jahr aus der Leibeigenschaft befreit, aber von ihrer finanziellen Schuld wurden die Leute nicht entbunden. Der große Schuldenerlass ist eine gefährliche Illusion.
Sie rechtfertigen den Kredit. Rechtfertigen Sie auch den Zins, den die jüdische, christliche und muslimische Tradition stets untersagt hat?
Geld kostet Geld. Der Zins ist der Preis für die Zeit, die ich kaufe, um mir heute Bedürfnisse zu erfüllen, die ich mir sonst versagen müsste. Insofern ist die Bereitschaft, Kredit zu nehmen und dafür Zinsen zu zahlen, ein optimistischer Akt. Der Schuldvertrag spiegelt den Glauben an eine bessere Zukunft. Der Gläubiger setzt auf seinen Schuldner, sonst würde er ihm den Kredit verweigern, und der Schuldner glaubt an sein Projekt, das ihm Gewinne ermöglicht, aus denen er den Kredit tilgen kann. Wenn wir über Zinsen reden, sprechen wir immer auch über Religion. Denn der jüdischen Religion verdankt die Welt ihren Zukunftsoptimismus.
Damit stellen Sie sich gegen Ihre jüdische Tradition, die den Zins mit dem Argument verbietet, Geld sei steril – und für das Leihen von Geld dürfe es keinen Preis geben.
Das ist mir zu simpel. Liest man genau in der Tora und im Talmud, so ist es nur innerhalb der Sippe verboten, Zinsen zu nehmen. Meinem Bruder, der in Not geraten ist, soll ich ein zinsloses Darlehen geben. Und meinen Nächsten soll ich keine Zinsen zahlen, denn das sieht so aus, als wollte ich mich bei ihnen einschleimen. Kurzum: Mit der Familie soll man keine Geschäfte machen. Aber generell gibt es kein Verbot des Zinses. Mit Leuten, die mir weniger nahe sind, dürfen selbstverständlich spekulative Geschäfte gemacht werden.
Daraus wurde das Zerrbild des „Zinsjuden“ und des „Wucherjuden“, der die Christen über den Tisch zieht: ein Inbegriff des habgierigen Kapitalisten.
Das ist das perverse christliche Weltbild, wonach man das Geld verteufelt, es aber trotzdem braucht und diese Ambivalenz auf die Juden verschiebt. Mit den Juden schafft man sich eine Kaste der Bösen, zu der übrigens im Mittelalter auch die christlichen Kaufleute gehörten. Ihnen wurde wie auch den Prostituierten von der Kirche keine Beichte abgenommen. Dieses Weltbild kann nicht stimmen. Es ist zugleich auch ein unrealistisches Menschenbild. Man beschimpft die Finanzindustrie und ist trotzdem auf sie angewiesen. Die Juden, die von ihrer Religion her Realisten sein durften, boten sich als Banker an, weil sie klug genug waren zu sehen, dass Geld und Kredit wichtig sind.
Juden sind religiöse Realisten?
Im Talmud gibt es die schöne Geschichte, wie die Menschen eines Tages Gott baten, ihnen den „bösen Trieb“ zu nehmen. Der böse Trieb bedeutet Konkurrenz, Neid, Sexualität und vieles mehr. Gott lässt sich darauf ein und nimmt den bösen Trieb weg, den er ja selbst in die Welt gesetzt hat. Und was passiert? Die Welt kommt auf der Stelle zum Stillstand; es tut sich nichts mehr. Noch nicht einmal Eier werden gelegt, weil der Hahn nicht mehr auf seine Henne scharf ist. Eine Welt ohne den bösen Trieb, das ist der Tod. Daraufhin beten die Leute, dass sie den bösen Trieb wiederbekommen. Aber nun erlassen sie Gesetze, die zum Beispiel die Sexualität auf die Ehe begrenzen und die dem Markt Regeln geben. Die bösen Triebe werden kanalisiert.
Die deutschen Ökonomen nennen das Ordnungspolitik. Woher wissen wir aber, was gut ist und was zu weit geht? Wie viel Zins ist gut, wo fängt der Wucher an?
Der Talmud sagt, ein Sechstel des Geschäftsvolumens sei als maximaler Gewinn erlaubt.
Fünfundzwanzig Prozent Gewinn auf das Eigenkapital, das Ziel der Deutschen Bank, das ist also unanständig und Wucher?
So ist es. Ein Sechstel ist für die Rabbinen eine faire Relation innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Wer mehr genommen hat, der muss das zurückzahlen, wenn er überführt wird. Wucher kann vor dem Rabbinatsgericht eingeklagt werden.
Faktisch wurden aber nach Berechnungen der Wirtschaftshistoriker von den Juden in der frühen Neuzeit 20 bis 90 Prozent Zins genommen.
Das waren Marktpreise, die das hohe Ausfallrisiko und die Knappheit des Kreditangebots spiegeln.
Der jüdische Spekulant ist eine ewige Quelle des Antisemitismus, der von Beginn an auch ein Antikapitalismus war.
In der jüdischen Religion ist es erlaubt, über Zins, Geld und das Geschäft zu reden. Für uns ist die Religion nicht von der säkularen Welt getrennt und abgespalten wie im Christentum. In der Tat: Juden haben zu allen Zeiten Geschäfte gemacht. Andere haben auch Geschäfte gemacht. Die Ressentiments gegen die Juden erklären sich daraus, dass die Juden offen und nicht verklemmt über das Geschäft reden. Je reiner und jungfräulicher einer zu leben meint, umso mehr wird er selbst zum Sünder. Alle, die das Wirtschaftsleben verteufeln, bekommen ein Problem damit, dass auch sie von der Wirtschaft leben.
Das Gespräch führte Rainer Hank.