Talmud und Termingeschäfte
von Abraham de Wolf und Rabbinerin Elisa Klapheck*
erschienen in der Jüdischen Allgemeinen vom 5. Dezember 2013.
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Der Hunger in der Welt wird weniger. Dieser Meldung widmete in diesem Jahr »The Economist« eine Titelgeschichte. Statistiken zufolge hat sich die Zahl der weltweit Hungernden in den vergangenen 20 Jahren halbiert. Ein Grund hierfür sind effektive agrarwirtschaftliche Maßnahmen.
Vollkommen unabhängig von dieser Entwicklung führen jedoch derzeit große Teile der deutschen Zivilgesellschaft einen Kampf gegen den Derivate-Handel der Banken in Bezug auf Nahrungsmittel. Unter der Losung »Kein Spiel mit dem Hunger« behaupten Oxfam und Foodwatch, Spekulationen mit Lebensmitteln seien ursächlich für steigende Lebensmittelpreise verantwortlich und vergrößerten den Hunger in der Welt.
Es sollte nachdenklich stimmen, dass bereits die Rabbinen im Talmud über Spekulation mit Nahrungsmitteln diskutierten, jedoch zu einem völlig anderen Ergebnis als Oxfam und Foodwatch kamen. Hunger und Unterernährung zu bekämpfen, war immer schon eine zentrale Aufgabe der jüdischen Wirtschaftsethik.
Ernten In der Tora wurde den Bauern auferlegt, die Ecken der Felder nicht abzuernten, sondern sie den Armen zu überlassen. Voraussetzung für die blühenden Felder waren allerdings schon damals Finanzierungsmöglichkeiten für Bauern und Händler. Diese sollten die Ernten vorfinanzieren, zugleich finanzielle Risiken einer Missernte mindern, Engpässe auf den Märkten verhindern, allzu starke Preisschwankungen abfedern und am Ende gewährleisten, dass die Grundnahrungsmittel zu bezahlbaren Preisen auf dem Markt erhältlich waren.
Seit der frühen Antike gibt es darum einen Markt mit Lieferverträgen für die Zukunft – sogenannte Termingeschäfte. Heute werden sie als »Derivate« und »Futures« an den Börsen gehandelt. Sie funktionieren wie eine Versicherung für die Bauern. Zugleich dienen sie der Liquidität der Märkte. Ein Markt ist dann »liquide«, wenn alle Bewegungen »im Fluss« sind, wenn also möglichst viele Teilnehmer – Bauern und Produzenten, Händler und Käufer – auf ihm agieren können.
Die talmudische Diskussion hierzu findet sich im Traktat Bawa Mezia (Mischna, Kapitel 5; Gemara, Folien 61b ff. u. 72b ff.), in der es vordergründig um das Zinsverbot geht, hintergründig jedoch neue Formen von Termingeschäften ermöglicht werden sollen. Dem heutigen ethischen Empfinden ähnlich, unterschieden auch die damaligen Rabbinen zwischen Geschäften mit Nahrungsmitteln und mit anderen Waren.
Zins Der Unterschied ergab sich aus dem Toravers: »Dein Geld sollst du ihm nicht um Zins (Neschech) geben, und um Überschuss (Marbit) gibt ihm nicht deine Speise« (3. Buch Mose 25,37). Neschech sei, wenn man vier Denare verleiht, jedoch fünf zurückverlangt.
Dem stellt die Mischna ein Termingeschäft mit Lebensmitteln gegenüber: »Tarbit (im Unterschied zu Neschech) heißt es, wenn jemand an Früchten einen Gewinn erzielt, zum Beispiel: wenn jemand von einem Weizen zum Preise von einem Gold-Denar (= 25 Silber-Denar) für das Korn gekauft hat, und dies der Marktpreis war, und als später der Weizen auf 30 (Silber-)Denar gestiegen war, er zu ihm sagt: Gib mir meinen Weizen, denn ich will ihn verkaufen und dafür Wein kaufen, und dieser ihm erwidert: Dein Weizen sei dir bei mir für 30 angerechnet und du hast nun bei mir dafür Wein, während er gar keinen Wein hat« (Mischna, Bawa Mezia 5,1).
Der biblische Begriff Tarbit oder Marbit wird zumeist mit dem wertenden Wort »Wucher« übersetzt. Treffender wäre »Überschuss«. Gemeint ist die Wertmehrung, die im Verlauf der Zeit entsteht, wenn der Preis für Früchte im Lauf der Saison sinkt oder steigt. Sind Geschäfte, die mit solchen Preisschwankungen spekulieren, durch die Halacha erlaubt oder verboten?
Die talmudische Diskussion geht in Richtung erlaubt, formuliert aber Einschränkungen. So verlangt die besagte Mischna-Bestimmung, dass die Ware – hier der Wein – auch vorhanden ist. An der Börse wird der Handel mit Dingen, die man selbst nicht hat, sondern nur abstrakt »leiht«, ohne direkte Partei in einem Geschäft zu sein, »Leergeschäft« genannt.
Börsenethik Führende Börsenethiker wie Susan Levermann (Der entspannte Weg zum Reichtum, 2010) raten von solchen rein spekulativen Geschäften ab. Sie stimmten darin mit Wirtschaftshalachisten wie Aaron Levine überein.
Dieser hat in seinem Buch Economics and Jewish Law (1987) dargelegt, dass Derivate und Spekulation mit Nahrungsmitteln halachisch positiv zu bewerten sind, wenn sie dem Gemeinwohl dienen, darunter auch der Liquidität der Märkte. Das sei bei »Leerverkäufen« aber nicht der Fall, sie fallen unter das halachisch negativ zu bewertende »Glücksspiel«.
Zur Zeit der Mischna war der Handel mit Dingen, von denen man nicht weiß, ob man sie auch in der Zukunft haben wird, einfach zu riskant. Oberstes rabbinisches Ziel war die Grundversorgung der Bevölkerung. Bei genauem Lesen des fünften Kapitels in Bawa Mezia zeigt sich, dass die Rabbinen das Zinsverbot in erster Linie als ein Verbot von zu hohem Risiko verstanden. Dementsprechend verbietet die Mischna eine Reihe von Sachverhalten, bei denen einer der beiden Geschäftspartner ein zu hohes Risiko trägt (was verstecktem Zins gleichkommt).
Transparenz Nach dieser Logik ist eine ungerechte Risikoverteilung gefährlich, weil sie die Grundversorgung gefährdet. Ein wichtiges Mittel gegen zu hohes Risiko ist Transparenz. Ihr dient heute der »notierte Preis« an der Börse. Ähnlich war es mit dem »festgesetzten Preis« in der Mischna: »Man darf nicht ein Lieferungsgeschäft auf Früchte abschließen, bevor der Marktpreis festgesetzt worden ist; ist der Marktpreis festgesetzt worden, so darf man abschießen, denn wenn dieser keine hat, so hat sie ein anderer …« (Bawa Mezia 5,7).
Ganz eindeutig ist in den Worten »wenn dieser keine hat, so hat sie ein anderer« die Liquidität des Marktes angesprochen. Der festgesetzte Preis entsteht da, wo die größten Märkte sind – und große Mengen an Vorräten sowie der Fernhandel für einen stabilen Preis sorgen: »Unsere Mischna spricht vom Weizen der Speicher und der Schiffe, deren Preise sich lange halten« (Bawa Mezia 72b).
Offensichtlich hatte eine Entwicklung stattgefunden – von der biblischen Subsistenzökonomie zur Volkwirtschaft in der Antike. Nach rabbinischer Wirtschaftsauffassung in der Gemara war der »festgesetzte Preis« ein Indikator dafür, dass es auch ein ausreichendes Angebot gab. Deshalb durfte man Lieferungsgeschäfte abschließen, wenn der Marktpreis feststand – auch wenn man selbst die Waren nicht hatte, da man sie ja bei einem anderen beschaffen konnte.
Raba Diese Wendung, die zeigt, dass die talmudische Diskussion nicht blind Bestimmungen der Tora zum Zinsverbot durchsetzte, sondern sie auf die Minderung von Risiko durch Steigerung der Liquidität des Marktes und damit des Gemeinwohls hin übersetzte, wurde entscheidend von einem Mann mitgeprägt: Raba.
Er lebte im dritten bis vierten Jahrhundert in Babylonien und war nicht nur talmudischer Rechtsgelehrter, sondern auch Grundbesitzer und Weinhändler. Raba kannte sich mit den Wirtschaftsmärkten seiner Zeit aus, nicht zuletzt, weil seine Stadt, Machosa, eine kosmopolitische Handelsstadt am Tigris und Station auf der Seidenstraße war. Raba galt als Rationalist, der die jüdischen Gesetze in ein neues Verhältnis zu der sich verändernden ökonomischen Realität brachte.
Von Raba stammt auch das berühmte Talmud-Zitat, das redliches Wirtschaftsverhalten auf dieselbe Stufe stellt wie das Torastudium: »Raba sagte: Wenn man den Menschen zu Gericht bringt, fragt man ihn: Hast du deinen Handel in Redlichkeit betrieben? Hast du Zeiten für das Torastudium festgesetzt? Hast du die Fortpflanzung ausgeübt? Hast du auf das Heil gehofft? Hast du über Weisheiten diskutiert? Hast du verstanden, logisch zu denken? Aber: ›Der Respekt vor Gott ist sein Schatz‹« (Schabbat 31a).
Früchte Die Liberalisierung, die in der Gemara gegenüber der Mischna in Bezug auf Geschäfte mit Wertmehrung in der Zeit stattgefunden hat, war natürlich umstritten. Das zeigt auch die folgende Passage zur Frage, ob man bei einem Geschäft die Früchte selbst besitzen muss oder es ausreicht, die Geldsumme zu besitzen, um sie zu kaufen:
»Raba sagte: Da nun R. Jannaj gesagt hat, es sei einerlei ob ihren Kaufpreis oder die (Früchte) selbst oder ihren Kaufpreis, so sagen wir auch, es sei einerlei ob ihren Kaufpreis oder die (Früchte) selbst; man darf also auf den Marktpreis ein Lieferungsgeschäft abschließen, auch wenn (der Händler) keine (Früchte) hat. R. Papa und R. Hona, Sohn des R. Jehoschua, wandten gegen Raba ein: Dies ist, wenn er sie alle besitzt, erlaubt, wenn aber nicht verboten!? Dieser erwiderte: Da ist es ein Darlehen, hierbei aber ein Kauf« (Bawa Mezia 63b).
Ein juristischer Kunstgriff brachte die halachische Wendung! Als Darlehen könnte es Zinsen für Lebensmittel einbringen und wäre verboten. Als später zu begleichender Kauf ist das spekulative Liefergeschäft auf die Wertmehrung hin erlaubt.
Dass bei solchen Geschäften Gewinne gemacht und Verluste erlitten werden können, war also nicht das Problem der Rabbinen. Ihnen ging es um die Liquidität der Märkte in Bezug auf Lebensmittel. Was Lebensmittel betrifft, gilt damals wie heute: Nur wenn Gewinne möglich sind, wird jemand ein Risiko auf sich nehmen – wird ein Bauer pflanzen, ohne zu wissen, wie in Zukunft die Erntemenge und der Preis ausfallen und werden Händler in den Markt mit Termingeschäften und anderen Derivaten investieren.
Risiko-Bereitschaft Dieser Risiko-Bereitschaft darf jedoch nicht als Folge einer leichtsinnigen politischen Kampagne der Boden unter den Füßen weggezogen werden. Wie die Wirtschaftsethiker Ingo Pies und Thomas Glauben nachgewiesen haben, stimmen alle seriösen wissenschaftlichen Studien überein, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass der Handel mit Derivaten von Lieferverträgen für Lebensmittel zu höheren Lebensmittelpreisen geführt hat.
Dies wird auch nicht mehr von Oxfam bestritten. Trotzdem setzen Oxfam und Foodwatch ihre Kampagne fort. Demgegenüber stellt eine verantwortliche jüdische Wirtschaftsethik mit Raba, aber auch heutigen Wirtschaftsethikern und nicht zuletzt im Einklang mit einer modernen Wirtschaftshalacha, den aufklärerischen Anspruch, die Folgen einer Forderung einschätzen zu können, bevor vorschnelle moralische Losungen erhoben werden.