Schulden sind das ganze Leben

Was Tora und die rabbinische Tradition zu Darlehen, Zinsen und Tilgung sagen

Jüdische Allgemeine, 15.01.2015, 12:20 – von Rabbinerin Elisa KlapheckRabbinerin Elisa Klapheck

Die Tora befürwortet zinslose Kredite für Arme. In diesem Sinn kann man die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank verstehen.

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Das deutsche Wort »Schulden« hat einen anrüchigen Klang. Das hat mit der christlichen Kulturprägung zu tun. Christen sehen mitunter einen Zusammenhang zwischen einer Urschuld des Menschen gegenüber Gott. Nach dieser Auffassung hat sich diese Urschuld in der heutigen Zeit in unbekümmerte Neuverschuldungen des Staates verkehrt – und muss, so die Schlussfolgerung, irgendwann zur Katastrophe führen.

Im Hebräischen gibt es zwei Wörter für Schuld. »Aschma« bezeichnet die kriminelle Schuld, von der hier nicht die Rede ist; »Chowa« ist die finanzielle Schuld. Letztere enthält das Wort »chajaw« – auf Deutsch: verpflichtet sein, in einer positiv gemeinten Verantwortung stehen. Dies verweist auf ein Verständnis von »schuldig sein« oder »Schuld« als sozialem Kitt, der Menschen miteinander verbindet. Letztlich »schulden« wir uns alle gegenseitig etwas – den Respekt, das Vertrauen, die Chance, die Ehrlichkeit.

Auf diesem Verständnis fußt auch die soziale Marktwirtschaft. Für sie sind Schulden, also das Aufnehmen von Darlehen bei Banken, ein wirtschaftspolitisches Instrument, mit dem Konjunkturmaßnahmen ebenso wie der Sozialstaat und anderes finanziert werden können.

GEMEINWESEN In die Wohlfahrt einer Gesellschaft zu investieren, ist jedoch nichts Neues. Schon der Talmud sah eine politische Pflicht, nach Möglichkeit allgemeine Wohlfahrt zu gewährleisten. Er listete eine Reihe von Feldern auf, in die ein jüdisches Gemeinwesen zu investieren habe, darunter Sicherheitsmaßnahmen (Stadtmauern, Verteidigung etc.), Wasserversorgung, Reparaturen und Pflege der öffentlichen Verkehrswege, Sicherstellung des religiösen Lebens durch Anschaffung einer Torarolle, Besoldung von Religionslehrern, Synagogenbau sowie die Gewährleistung eines sozialen Minimums für alle Gemeindemitglieder. Auf diesen Feldern waren die »Anschei Ha’ir« (der Stadtrat) berechtigt, entsprechende wirtschaftspolitische Maßnahmen zu treffen.

Alternative Zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben gibt es zwei Möglichkeiten – die Aufnahme von Darlehen oder aber die Besteuerung der Bürger. Der Talmud diskutiert vor allem, welche Arten von Steuern und Abgaben erhoben werden könnten. Sollten jedoch höhere Steuern die Wirtschaftstätigkeit lähmen, sind – so Aaron Levine, Autor zahlreicher wirtschaftshalachischer Werke – Schulden die bessere Alternative.

Levine leitet aus der talmudischen Wirtschaftshalacha einen direkten Auftrag ab, die Konjunktur durch Schulden anzukurbeln: »Maßnahmen zu unternehmen, damit ein Individuum nicht unter die Armutsgrenze fällt, übersetzt sich nach unserer Meinung heute in die Verpflichtung des öffentlichen Sektors, eine Politik zu betreiben, die ein günstiges Wirtschaftsklima fördert, womit Arbeitslosigkeit und Armut minimiert werden.

Da sich gezeigt hat, wie entscheidend die Aufnahme öffentlicher Schulden zur Förderung wirtschaftlicher Wohlfahrt beigetragen hat, verlangt die Verpflichtung zur Wohlfahrt, dass der jüdische Staat seine wichtigen Projekte durch die Aufnahme von Schulden finanziert.« (Aaron Levine, Free Enterprise and Jewish Law – Aspects of Jewish Business Ethics, 1980, S. 162)

WIRTSCHAFTSREALITÄT Das setzt natürlich voraus, dass die Staatsschulden von der gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsleistung der Gesellschaft gedeckt sind. Auf den ersten Blick klingt die heutige Wirtschaftsrealität in Deutschland in Bezug auf die Staatsschulden aber beängstigend: Beim derzeitigen Schuldenstand mit einer angenommenen Rückzahlung von zehn Milliarden Euro im Jahr würde es etwa 200 Jahre dauern, um alle Schulden zurückzuzahlen.

Tatsächlich ist aber nicht die Höhe der Schulden entscheidend, sondern die Höhe der Zinsen. Eine umsichtige Schuldenpolitik sorgt dafür, dass die Zinsen nicht andere notwendige Ausgaben wie Sozialausgaben, Verteidigung, Bildung, Infrastruktur und so weiter verdrängen. Im heutigen Deutschland ist das der Fall: Für Soziales wird immer noch fast dreimal so viel ausgegeben wie für Zinszahlungen. Auch die Verteidigungsausgaben liegen weit höher als der Schuldendienst. Es scheint demnach, dass wir uns unsere Schulden leisten können.

Griechenland Nicht gedeckt von der Wirtschaftsleistung sind dagegen die Schuldenhaushalte Griechenlands und Argentiniens. Bei beiden waren es vor allem die Korruption und Arroganz des politischen Establishments, die ihre Länder um ihre mögliche Wirtschaftsleistung brachten – sowie überdrehte Wahlversprechen, welche die Bevölkerung den Konsequenzen einer verantwortungslosen Schuldenanhäufung auslieferten.

GRIECHENLAND
Allerdings hat die Bevölkerung die fehlgehende Wirtschaftspolitik ihrer Regierungen auch nicht im Wege des demokratischen Prozesses korrigiert. Die nächste Wahl in Griechenland steht am 25. Januar an – und ein eventueller Wahlsieg der radikalen Linkspartei Syriza, die internationale Reformauflagen ablehnt und einen Schuldenschnitt fordert, wird die Situation nicht einfacher machen.

Doch wäre ein Schuldenerlass eine Lösung für Länder wie Griechenland? Viele rufen heute danach und berufen sich dabei auf die Tora. Aber lässt sich – zumindest theologisch – eine Analogie ziehen?

Der biblische Schuldenerlass ist thematisch mit der Freilassung der Sklaven sowie dem Zinsverbot verknüpft. Schulden, wie sie die Tora kannte, führten fast unweigerlich in die Schuldknechtschaft. Nach ein bis zwei Missernten war der Bauer so verschuldet, dass er zur Tilgung sich selbst verkaufen musste. Dem wirkte die Tora mit einem regelmäßigen Schuldenerlass und der Freilassung der hebräischen Sklaven (= Schuldknechte) entgegen.

Eine andere Maßnahme sah sie in der Hilfe zur Selbsthilfe durch zinslose Kredite. Wenn ein Bauer – »dein Nächster«, »dein Bruder« – in Not gerät und arm geworden ist, gib ihm ein zinsloses Darlehen, damit er wieder auf die eigenen Beine kommt (2. Buch Mose 22,24).

ZENTRALBANK Schon die rabbinische Auslegung (Mechilta deRabbi Jischmael) betonte, dass diese Bestimmung ausschließlich Arme meinte. Ähnlich fährt heute die Europäische Zentralbank eine Politik niedrigster Zinsen, um Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal oder Irland Anreize zu bieten, die Wirtschaft anzutreiben.

Der israelische Rabbiner Yoel Domb leitet aus der Tora-Bestimmung drei Prinzipien für das Schuldenmachen heutiger Wirtschaftspolitik ab. Zunächst bestehe die Mizwa, Geld zu verleihen. Und umgekehrt, temporär Schulden zu machen, um zu investieren und die Krise zu überwinden. Domb bezieht sich auf den Kommentar des TaS (Ture Zahav) zum Schulchan Aruch (Choschen Mischpat 97,25): Wer die Wahl hat, das Geld entweder als Zedaka zu geben oder in Form eines Kredits zu verleihen, sollte den Bedürftigen das Geld leihen.

Die Bestimmung enthält darüber hinaus ein implizites Recht auf Wohlfahrt. Die Mitglieder einer Gemeinschaft tragen Mitverantwortung für den in Not geratenen Armen, damit er sich wieder aus eigener Kraft ernähren kann.

Um dieser Verantwortung gerecht werden zu können, darf eine Gemeinschaft – oder ein Staat – Darlehen aufnehmen, die ihre Mitglieder bei der Schaffung von Wohlfahrt unterstützen. Das freiwillige Machen von Schulden darf jedoch nie so weit gehen, dass neue Formen von Schuldknechtschaft entstehen. Zur Zeit der Tora war das allerdings schwierig. Deshalb gab es den regelmäßigen Schuldenerlass und die Freilassung der Schuldknechte. Bereits zur Zeit des Talmuds aber war die Wirtschaft um so viel weiter entwickelt, dass der einzelne Schuldner durchaus die Chance hatte, seine Schulden zurückzuzahlen. Nicht zufällig wird deshalb das Zinsverbot von den Rabbinen im Talmud neu diskutiert und im Ergebnis relativiert.

KONJUNKTURPOLITIK
Im Lichte der rabbinischen Auseinandersetzung wäre danach ein Schuldenerlass für einen Staat, der sich durch vorsätzliche Misswirtschaft selbst in Probleme gebracht hat, kein Ausweg. Demgegenüber ist Konjunkturpolitik im Wege der Schulden von der Tora her gedeckt.

Ein Problem sehen manche moderne rabbinische Wirtschaftsexperten lediglich bei der Frage, ob durch staatliche Schuldverschreibungen verbotene Zinsen entstehen. Shimon Greenfeld (gestorben 1930) sah diese als legitim an. Das Zinsverbot gelte im jüdischen Recht nur dann, wenn es sich beim Kreditgeber um ein persönliches Darlehen (mit einer persönlichen Beziehung des Gläubigers zum Schuldner) handelt (Levine, S. 170).

Aaron Levine führte die Auseinandersetzung in Bezug auf die Rolle der modernen Zentralbanken weiter aus: »Öffentliche Schulden werden im modernen Staat finanziert, indem Schuldverschreibungen verkauft werden an entweder die Allgemeinheit oder an das kommerzielle Bankensystem oder an die Zentralbank.« Gerade bei Letzterem sei ein Verstoß gegen das Zinsverbot »beim Verkauf von Schuldverschreibungen an die Zentralbank nicht gegeben. Denn hier wird die Schuld finanziert im Wege der Schaffung von neuem Geld. Mechanisch gesehen kauft die Zentralbank öffentliche Schulden und bezahlt für sie, indem sie die Geldsumme um diesen Betrag erhöht« (ebd. S. 171).

ARGENTINIEN Stärker als jede andere Währung haben Schulden zwei Seiten. Mit einer zu hohen Schuldenlast droht neue Schuldknechtschaft. Die berechtigte Angst hiervor sollte aber nicht Vertretern von radikalen Lösungen in die Hände spielen. Ein genereller und vor allem selbst proklamierter Schuldenerlass, wie er aus Argentinien anklingt, befördert den Staat in die finanzielle Unglaubwürdigkeit und ebnet nur noch schlimmere Zeiten. Eine Politik des schuldenfreien Haushaltes, wie von Rechtspopulisten gefordert, macht wiederum konjunkturpolitische Maßnahmen unmöglich und verschärft temporäre Krisen zu strukturellen Rezessionen.

Nach Auffassung der jüdischen Tradition stehen Menschen sowieso in der Schuld, gehören Schulden zur menschlichen Kondition und sollten wir lernen, umsichtig damit umzugehen und Schulden zum Guten hin als Herausforderung zu begreifen.

Gott, der große Gläubiger beziehungsweise »Ladenbesitzer«, nimmt uns die Schulden nicht übel. Ihm gegenüber besteht das ganze Leben aus dem Machen und dem Begleichen von Schulden – und am Ende trifft man sich dann zum gemeinsamen Mahl: »Er (Rabbi Akiwa) pflegte zu sagen: Alles ist als Darlehen gegeben, ein Netz ist über alle Lebenden gespannt. Der Laden ist offen, der Ladenbesitzer räumt Kredit ein; das Buch ist offen, die Hand schreibt; wer borgen will, kann borgen. Die Einzieher sind täglich unterwegs und kassieren die Schulden, mit oder ohne Wissen des Menschen; sie haben Unterlagen, auf die sich stützen können, das Urteil ist ein wahrhaftes Urteil, und alles ist zum Mahl bereit.« (Pirkej Awot 3,20)

Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt/Main. Der Text entstand in Zusammenarbeit mit Abraham de Wolf, Vorsitzender des Vereins Torat HaKalkala zur Förderung der angewandten jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik.