Ist eine „Vermögenssteuer“ aus jüdischer Sicht gerecht?

Von Rabbinerin Elisa Klapheck*

erschienen in der Jüdischen Allgemeinen vom 28. Februar 2013.
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Neuerdings wird über die Einführung einer Vermögenssteuer debattiert. Sie wird auch „Reichensteuer“ genannt und soll mehr Gerechtigkeit gegen die immer eklatanter wahrgenommene Schere zwischen Reich und Arm herstellen. Viele Menschen haben die Vorstellung, dass die gewachsene Armut in Deutschland ursächlich mit einem exorbitant gewachsenen Reichtum einiger Weniger zusammenhängt. Jetzt aber sei die Zeit der Umkehr gekommen, heißt es. Mithilfe einer auf die Reichen fixierten Sondersteuer sollen diese etwas abgeben und damit einen Tribut an die Gerechtigkeit leisten.

 

Die SPD und die Grünen forcieren das Thema. Schon jetzt zeichnen sich jedoch Schwierigkeiten ab. Wenn das Vermögen, mit dem Betriebe wirtschaften, durch eine Sondersteuer vermindert wird, könnten Leistungsfähigkeit und Reserven für schwierige Zeiten schrumpfen. Deshalb will die SPD das Betriebsvermögen von der Steuer ausnehmen. Damit würde aber von den erhofften Steuereinnahmen nicht allzu viel übrig bleiben. Die Besteuerung von Privatvermögen gestaltet sich ebenfalls schwierig und ist zudem aufwendig, wenn nicht gar ineffizient. Wie soll z.B. ein wertvolles Kunstwerk besteuert werden, das der Eigentümer zwar privat besitzt, jedoch nicht die dafür erforderliche Steuer bezahlen kann? Werden diejenigen, die können, etwa ein Gemälde aus ihrem Wohnzimmer in ihre Firma übertragen, um der Besteuerung zu entgehen. Werden in ähnlicher Weise Mietshäuser in GmbHs verlegt und als Betriebsvermögen deklariert? Entsteht somit neue Ungerechtigkeit?

 

Eine weitere Frage ist, ob mit der Vermögenssteuer das Verbot der Doppelbesteuerung von bereits versteuertem Einkommen gebrochen wird. Schon 1995 hatte das Bundesverfassungsgericht die Vermögenssteuer für verfassungswidrig erklärt, weil eine gerechte Werteinschätzung nicht gewährleistet war. Damals wurde der Immobilienbesitz de facto begünstigt. Es ist jedoch fraglich, ob die Bewertungen heute objektiver ausfallen würden. Wäre es darum nicht effizienter, den Spitzensteuersatz einfach um ein bis zwei Prozentpunkte zu erhöhen? Aber damit wäre natürlich der Diskussion um eine Sondersteuer auf das Vermögen der Reichen der Stachel entzogen.

 

Fragen über Fragen – und an dieser Stelle die weitere Frage: Gibt es möglicherweise eine jüdische Position zu diesem Thema?

Es steht zunächst außer Zweifel, dass Steuern Gerechtigkeit herstellen sollen – und dabei Reiche einen höheren Anteil zu zahlen haben. Aber ist die Vermögenssteuer der richtige Weg? Dient sie wirklich der Gerechtigkeit?

 

Das hebräische Wort für Gerechtigkeit heißt Zedek. Die Handlung, die helfen soll, Gerechtigkeit herzustellen, heißt Zedaka. Sie wird meist als „Wohltätigkeit“, im Sinne individueller Almosen für Bedürftige übersetzt. Das aber würde zu dem perfiden Schluss führen, dass Armut etwas Bleibendes und Gutes ist, weil ohne Armut keine Zedaka ausgeübt werden kann. Genau das entspricht nicht der jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik. Sie verbindet mit der Idee der Zedaka die Überwindung der Armut, indem Arme hierfür entsprechende Chancen erhalten. So sah Maimonides (12. Jhr.) in der „Hilfe zur Selbsthilfe“ die höchste Stufe der Zedaka. (Siehe Hilchot Mat’not Ani’im 10:1,7-14) Heute sollte man unterscheiden zwischen G’milut chassadim – den in der jüdischen Tradition gepriesenen „sozialen Liebeswerken“ in Form von individuellen Almosen oder Spenden – sowie Zedaka als systemische Politik der Gerechtigkeit, was Wirtschaftspolitik und somit auch Steuerpolitik einschließt.

 

Jahrhundertelang hat sich das rabbinische Judentum mit dem inneren Zusammenhang zwischen Steuern und Gerechtigkeit auseinandergesetzt. Dabei gab es durchaus die von einigen Rabbinern vertretene Position, wonach Reichtum und Armut ursächlich miteinander zusammenhängen. So heißt es z.B. im Kommentar von Isaak Karo (1458-1535, Neffe von Josef Karo): „Der Grund, warum der Arme arm ist, ist, weil der Reiche reich ist. Wenn dein Stern aufsteigt, sinkt sein Stern. Aus diesem Grund heißt es ‚der Arme mit dir‘. Warum ist das ‚mit dir‘ notwendig? Um zu zeigen, dass du der Grund dafür bist, dass er arm ist. Und was wird Gott tun, wenn du ihm nicht gibst? Gott wird das Universum umdrehen, so dass der Stern, der ganz oben ist, sinkt und der Stern, der ganz unten ist, steigt.“ (Toldot Yizchak, Re’e)

Zwar hat sich diese unmittelbare, geradezu kosmische Sicht, in der die Gesetze des Reichtums zugleich die der Armut sind, in der rabbinischen Sichtweise nicht durchgesetzt. Gleichwohl konnte sie sich auf gewichtige Aussagen im Talmud und den Midraschim stützen, die religiöse Gründe für die Existenz von Armut nennen – etwa dass Arme eher Gerechte seien als Reiche, oder aber dass die Existenz von Armen den Reichen die Chance gebe, Zedaka zu üben.

 

Dem gegenüber wurde die eigentliche talmudische Diskussion über eine gerechte Steuererhebung in einem ganz anderen Zusammenhang geführt. Sie lief auf erstaunliche Weise der heutigen voraus und war darin verblüffend modern. Erst in der Moderne ist die Hoffnung, Armut grundsätzlich überwinden zu können zu einem realistischen Ziel geworden. Das ist jedoch gebunden an einen demokratischen Rechtsstaat, der von den Bürgern zusammen gestaltet wird. In der talmudischen Debatte ging es um die Finanzierung eines Sozialsystems. Dieses war damals jedoch gebunden an die Herstellung eines Gemeinwesens, an dem Bürger ebenfalls gleichberechtigt teilhatten. Den Kontext der Diskussion bildete somit nicht primär der soziale Ausgleich zwischen Reich und Arm, sondern die politische Gleichberechtigung. So fragte die Mischna: „Wie lange muss man in der Stadt gewohnt haben, um den Bürgern der Stadt zu gleichen? Zwölf Monate. Hat man darin ein Wohnhaus gekauft [oder gemietet], so gleicht man sofort den übrigen Bürgern der Stadt [und wird an den Kosten für die Stadtmauern beteiligt].“ (Mischna, Bawa Batra 1:5) Der Talmud führte aus: „Sind denn in jeder Hinsicht zwölf Monate erforderlich, es wird ja gelehrt: Dreißig Tage hinsichtlich des Armenkessels [Tafel mit Lebensmitteln], drei Monate hinsichtlich der Almosenkasse, sechs hinsichtlich der Armenbekleidung, neun hinsichtlich des Begräbnisses und zwölf hinsichtlich der Stadtbefestigung.“ (Bawa Batra 8a)

Indem man Sozialabgaben zahlte, übte man Zedaka gegenüber den Armen aus – doch mindestens genauso wichtig: wurde man gleichberechtigter Bürger. Gleichberechtigt sollten auch die sozial schlechter Gestellten werden. Deshalb wurde von den Waisen ebenfalls ein Beitrag zur Stadtbefestigung erhoben. „R. Assi sagte im Namen R. Jochanans: Von jedem wird ein Beitrag zur Stadtbefestigung erhoben, selbst von den Waisen. Die Regel hierbei ist: für jede Sache, von der sie einen Nutzen haben, müssen auch Waisen beitragen. Raba belegte die Waisen des Bar Marjon mit Zedaka, da sprach Abaje zu ihm: R. Schmuel b. Jehuda lehrte ja, man belege Waisen nicht mit Zedaka, nicht einmal zur Gefangenenauslösung?! Dieser erwiderte: ich tue dies zu ihrer Ehrung.“ (Bawa Batra 8a)

 

Der Talmud nennt in derselben Diskussion eine symbolische Steuer von einem Drittel Schekel für die Armen, damit sie an der Gestaltung des Gemeinwesens, d.h. der Finanzierung von Mizwot beteiligt sind: „R. Assi sagte: Man unterlasse es nicht, wenigstens ein Drittel Schekel jährlich zu geben, denn es heißt: ‚Wir legten uns ein Gesetz [Übersetzung für Mizwot] auf, jährlich ein Drittel Schekel für den Dienst am Tempel unseres Gottes zu geben.‘ [Neh. 10:33] Ferner sagte R. Assi: Die Zedaka wiegt alle Einzel-Mizwot auf, denn es heißt: wir legten uns ein Gesetz [Mizwot] auf, es heißt nicht Mizwa, sondern Mizwot.“ (Bawa Batra 9a)

 

Mit der schon im Talmud gestellten, weiteren Frage, nach welchen Gesichtspunkten Steuern erhoben werden sollen, zeigt sich nunmehr eine Verbindung zur heutigen Diskussion über die Vermögenssteuer. In diesem Zusammenhang ist es zunächst hilfreich darauf hinzuweisen, dass Effizienz und Transparenz durchaus religiöse Kriterien sein können. J. Rosenberg und A. Weiss haben in einem Aufsatz über das Jubeljahr dargelegt, dass die Rückführung des Landes der Landkonzentration und Monopolbildungen entgegenwirkt und damit dem Gedanken der Effizienz dient – d.h. der maximalen Wirtschaftsleistung durch Viele.** Waren seien qualitativ dann am besten und Preise am niedrigsten, wenn Konkurrenz herrscht. Kommt es zu Monopolbildungen durch Einzelne sinkt die Qualität und diktiert das Monopol den höchstmöglichen Preis. Auch sinkt die Wirtschaftsleistung im Ganzen. Aus der Sicht einer Politik der Zedaka, die die Grundversorgung der Bevölkerung gewährleisten will, ist Monopolbildung grundsätzlich ineffizient und führt meist zu Intransparenz. Diese Fehlentwicklung muss mit einem von Gott gewollten Prinzip – hier dem Jubeljahr – durchbrochen werden.

 

Eine solche wirtschaftspolitische und zugleich religiöse Auffassung von Effizienz und Transparenz lässt sich auch auf die Auseinandersetzung mit der Steuergesetzgebung übertragen. Effizienz soll dem maximalen Mitwirken Aller dienen. Den Einen zu nehmen, um den Anderen zu geben, wäre zu simpel, um effizient zu sein. Je „gerechter“ etwas ist, desto komplexer ist es und umso mehr Gesichtspunkte werden dabei berücksichtigt und fruchtbar aufeinander bezogen. Effizienz ist, wenn sie an der jüdischen Tradition gemessen werden soll, ein Umgang mit der Wirklichkeit, der ihrer Komplexität gerecht wird. Dementsprechend diskutierten bereits die Rabbinen im Talmud über mehrere mögliche Kriterien für die Steuererhebung. Vor allem drei Möglichkeiten wurden in Betracht gezogen: Eine Kopfsteuer, d.h. derselbe Betrag für jeden Bürger. Oder, wie schon bei der Steuerzahlung der Waisen für die Stadtbefestigung angeklungen, eine Steuer, die sich an dem Nutzen bemisst, den der jeweilige Bürger von einer durch Steuern finanzierten Sache hat. Oder aber eine proportionale Steuer in Bezug auf die Höhe des Einkommens.

Offensichtlich setzte sich Letzteres, d.h. eine proportionale Steuer zum Einkommen durch: „R. Eleasar fragte R. Jochanan: Wird die Steuer [für die Stadtbefestigung] nach den Personen oder nach dem Vermögen erhoben? Dieser erwiderte: Sie wird nach dem Vermögen erhoben, und mein Sohn Eleasar hat in dieser Sache Pflöcke eingeschlagen [d.h. es zum Gesetz bestimmt]. Manche lesen: Wird sie nach der Lage des Hauses erhoben oder nach dem Vermögen? Dieser erwiderte: Sie wird nach dem Vermögen erhoben, und mein Sohn Eleasar hat in dieser Sache Pflöcke eingeschlagen.“ (Bawa Batra 7b)

 

Bezieht man die Proportionalität auf die talmudische Ursprungsfrage, nämlich wie man gleichberechtigter Bürger wird, zeigt sich ein Schlüssel zur Gerechtigkeit: Die proportionale Steuer, also der höhere Steueranteil der Reichen, dient nicht nur dem sozialen Ausgleich gegenüber den Armen, sondern ist Bedingung dafür, dass alle mit gleicher Intensität – nämlich proportional mit ihrem jeweiligen Vermögen – an dem Gemeinwesen teilhaben. Bei den Armen wäre es die symbolische Mindeststeuer, bei den Reichen ein höherer Prozentsatz.

 

Die moderne Steuergesetzgebung hat weitere Kriterien in ihren Gerechtigkeitskatalog aufgenommen – darunter die Progression des prozentualen Anteils. Ihr liegt die Frage zugrunde, wie viel man zum Leben braucht. Der Prozentsatz steigt in dem Maße, in dem das Einkommen die Antwort übersteigt. Das erscheint komplex, effizient und gerecht zugleich. Die Vermögenssteuer, so wie sie heute als „Reichensteuer“ diskutiert wird, scheint diesen Kriterien jedoch nicht zu genügen. Sie vermag weder in Bezug auf Effizienz noch auf Transparenz zu überzeugen. Nichts gegen einen höheren Steueranteil für Reiche, würde der Talmud sagen. Aber warum sich in ein Dickicht von schwierig zu gestaltender Vermögensbewertung begeben, dabei Ressentiments gegen Reiche bedienen und zugleich potentielle neue Ungerechtigkeiten erzeugen, wenn der Spitzensteuersatz ganz einfach und mit einem fiskalisch viel besserem Resultat nur um ein paar Prozentpunkte angehoben werden kann?

 

 

 

* Unter Mitwirkung von Abraham de Wolf, Vorsitzender von Torat Hakalkala – Verein zur Förderung angewandter jüdischer Wirtschafts- und Sozialethik. Der Artikel fußt auf einer Veranstaltung am 5. Februar 2013 in der B’nai B’rith Frankfurt Schönstädt Loge und der Jüdischen Volkshochschule in Frankfurt a. M..

 

** Jacob Rosenberg, Avi Weiss: “Land Concentration, Efficiency, Slavery, and the Jubilee”, in Aaron Levine (Ed.), “The Oxford Handbook of Judaism and Economics”, Oxford University Press 2010