Wer Geld ohne Zeugen verleiht

von Rabbinerin Elisa Klapheck*

erschienen in der Jüdischen Allgemeinen vom 2. Mai 2014.
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Angesichts der jüngsten Finanzkrisen und ihrer Auswirkungen auf private Bankkunden stellt sich die Frage: Brauchen wir mehr Schutz für Verbraucher? Oder aber: Brauchen wir eine größere Mündigkeit der Verbraucher?

Aus jüdischer Sicht ist vor allem Letzteres zu bejahen. Denn die jüdische Ethik sieht eine umfassende Verantwortung aller Marktteilnehmer. In Bezug auf die Mitverantwortung beispielsweise für verbotene Sorten von Zinsgeschäften sagt der Talmud, schuldig seien alle Akteure: »der Gläubiger, der Schuldner, der Bürge und die Zeugen; die Weisen sagen: auch der Schreiber« (Mischna Bawa Mezia 5,11).

»Opfer« Eventuell Geprellte können sich in diesem Fall also nicht herausreden, »Opfer« zu sein. Eine solch umfassende Verantwortung ist jedoch nur möglich, wenn ausreichende Kenntnis und Transparenz gegeben sind. Viele Bankkunden können die Risiken beim Kauf von Finanzprodukten aber nicht ermessen.

Beginnen wir zunächst mit der religiösen Bedeutung des »Verbrauchens«. In dem Wort steckt »brauchen« – eben das, was alle Menschen brauchen: Essen, Bekleidung, Wohnung und so weiter. Aber durch das »ver-« enthält das Wort noch ein Mehr. Das, was uns zu »Ver-«Brauchern macht, ist die Möglichkeit, mit den Dingen, die wir gebrauchen, zugleich auch unsere Persönlichkeit, unseren Lebensstil, unsere Identität, unsere Weltanschauung auszudrücken.

Paragraf 13 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) sieht das entscheidende Merkmal des Verbrauchens außerhalb des beruflichen Interesses. Ein »Verbraucher« ist danach »jede natürliche Person, die ein Rechtsgeschäft zu einem Zweck abschließt, der weder ihrer gewerblichen noch ihrer selbstständigen beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann«.

Ein anderes Wort für »verbrauchen« ist »konsumieren«. In der englischen Übersetzung der Tora werden Stellen, in denen Gott als ein »verzehrendes Feuer« umschrieben wird, mit »consuming fire« ausgedrückt. Das hebräische »esch ochla« heißt wortwörtlich »essende Flamme« (zum Beispiel 5. Buch Mose 4,24). Gott erscheint somit ebenfalls als »Verbraucher«.

Allerdings verzehrt er auf eine Weise, die zugleich die ethische und soziale Gemeinschaft herstellt. Diesen Aspekt des Verbrauchens sollen wir als Konsumenten der Schöpfung nachahmen. »Ist es denn einem Menschen möglich, der Göttlichkeit zu folgen, es heißt ja: ›Denn der Ewige, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer‹!? Dies lehrt, dass man den Handlungen des Heiligen, er ist gesegnet, folge. Wie er die Nackten kleidet, wie es heißt: ›Und Gott, der Ewige, machte Adam und seinem Weibe Hautröcke und bekleidete sie‹ (1. Buch Mose 3,21), so kleide auch du die Nackten …« (Sota 14a).

selbstVerantwortung Damit stehen wir als »Verbraucher« der Schöpfung in einer religiösen Verantwortung – egal, ob wir das altruistisch auf die anderen oder auf unsere Selbstverantwortung beziehen. Seit mehr als einem Jahrzehnt sind wir immer stärker gehalten, für unsere soziale Absicherung und Altersvorsorge zusätzlich zu den staatlichen Regelungen eigenverantwortliche Verträge mit Finanzinstituten zu schließen.

Das muss der jüdischen Ethik nicht widersprechen. Die Voraussetzung hierfür aber wäre, dass wir diese Selbstverantwortung tatsächlich »verantworten« können, das heißt, »beurteilen«, was wir tun, und nicht unbemerkt unserer allgemeinen sozialen Verantwortung entgegenwirken.

Nach der großen Krise von 2008 bescheinigen jedoch Stiftungen wie Finanztest oder Warentest immer eindeutiger, dass wir von Banken keine Objektivität in Bezug auf unsere Bedürfnisse erwarten können. Bankberater sind Verkäufer von Finanzprodukten und werden uns immer dahingehend beraten, dass wir diese auch kaufen.

Naivität Um unsere umfassende Mitverantwortung ausüben zu können, müssen wir daher auf demokratische Weise Instrumente schaffen, die uns in die Lage versetzen, die jeweiligen Produkte beurteilen zu können. Schon der Talmud sah es als religiöse Schuld an, wenn man sein Geld naiv den Falschen anvertraut. »Die Rabbanan lehrten: Drei schreien und werden nicht erhört, und zwar: Wer Geld hat und es ohne Zeugen verleiht, wer einen Herrn über sich kauft, und über den seine Frau herrscht« (Bawa Mezia).

Letzteres würden wir heute, da Frauen zur Schule gehen, Berufsabschlüsse machen und selbstständig im Leben stehen, nicht mehr so formulieren – gemeint ist zusammengenommen, dass man sich auf keinen Fall von Naivität, Glauben an Höhergestellte und Unkenntnis leiten lassen darf.

Täuschung Mehr Mündigkeit verhindert, dass wir Opfer werden, und ermächtigt uns, verantwortlich handeln zu können. Die Bürde der Verantwortung liegt dabei jedoch nicht allein beim Kunden, sondern mindestens genauso beim Verkäufer. Der Talmud listet bei den verschiedenen Sorten von Diebstahl »Genewat Da’at b’Dewarim« auf – »Diebstahl des Wissens durch Worte«. Hierunter fallen nach der heutigen halachischen Debatte nicht nur Urheberschutz, sondern auch die Verwirrung, etwa durch irreführende Werbung, Täuschung von Kunden und vor allem Falschberatung.

Die Argumentation orientiert sich an dem Verbot: »Vor einen Blinden lege kein Hindernis« (3. Buch Mose 19,14). Die Rabbinen führten hierzu aus: »Vor einen, der blind in der Sache ist. (…) Er pflegte einen Rat von dir anzunehmen. Du sollst ihm nicht einen Rat geben, der ihm nicht förderlich ist. (…) Nicht sollst du zu ihm sagen: ›Verkaufe dein Feld und kaufe dir einen Esel‹, damit du auf ränkevolle Weise ihn ihm wegnimmst« (Sifre).

Moderne Kommentatoren der talmudischen Wirtschafts- und Sozialethik leiten aus solchen Stellen eine umfassende Dokumentationspflicht ab. Aaron Levine unterstreicht in seinen Werken über den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Halacha, dass aus jüdischer Sicht keine Hypothek, kein Kredit vergeben, kein Derivat verkauft werden dürfe, ohne dass alle absehbaren Risiken dokumentiert werden. Ebenso verlangte der Talmud, dass ein Verkäufer den Kunden über Mängel an der Ware oder ein damit verbundenes Risiko vollständig aufklären muss – auch wenn der Käufer ein Heide ist (Chullin 94a).

Sogar unkoscheres Fleisch dürfe nicht an Heiden verkauft werden, wenn dabei suggeriert werde, es sei koscher. Denn obwohl der Heide keinen finanziellen Verlust erleide, entstehe mit der Falschinformation ein Vertrauensbruch.

Vertrauen Verbraucherschutz hat somit zwei Seiten: Erstens muss die Mündigkeit der Verbraucher gestärkt werden. Zugleich muss es einen besonderen »Schutz« geben. Diesen begründen die modernen Rechtstraditionen mit zwei Argumenten. Für den heutigen, deutschen Verbraucherschutz ist die Tatsache entscheidend, dass der Verbraucher wegen seines geringeren Fachwissens der Schwächere ist und deshalb geschützt werden muss.

Demgegenüber leitet die angelsächsische Rechtstradition den Verbraucherschutz nicht aus dem Gefälle zwischen einem Stärkeren und einem Schwächeren ab, sondern aus dem Gedanken der Effizienz. Eine effiziente Wirtschaft funktioniere nicht ohne Vertrauen. Deshalb müssen Bedingungen geschaffen werden, durch die Käufer davon ausgehen können, dass die erworbenen Leistungen und Produkte vertrauenswürdig sind und deshalb gekauft werden.

Die talmudische Tradition kennt beide Aspekte: den Schutz des Schwächeren sowie die Vertrauenswürdigkeit als Voraussetzung für Effizienz. Das zeigt sich beispielsweise bei der Auseinandersetzung, wer in Arbeitsverhältnissen besonders geschützt werden muss. Wenn ein Arbeiter behauptet, der Arbeitgeber habe den Lohn nicht gezahlt, stellt sich die Frage, wer die größere »Beweislast« trägt.

LOHNZAHLUNG Die Rabbinen sehen sie beim Arbeitgeber, da er in der stärkeren Position ist. Deshalb habe er die Pflicht, ordentlich, das heißt, in Anwesenheit von Zeugen, den Lohn auszuzahlen. Trifft er dafür keine Sorge, ist er selbst schuld, wenn der Arbeiter den Lohn erneut einfordert. Beim Arbeiter hingegen reicht ein Schwur im Rahmen einer bestimmten Frist aus: Der Lohnarbeiter kann innerhalb der Frist schwören und (Zahlung) erhalten, sagt die Mischna.

Die Gemara sagt: »Weshalb haben die Rabbanan bestimmt, dass der Lohnarbeiter schwöre und (seinen Lohn) erhalte? (Hat nicht vielmehr gesetzlich der Beschuldigte zu schwören und ist von der Zahlung frei?) (…) Rabbi Nachman erwiderte im Namen Schmuels: Hierbei trafen sie feststehende Bestimmungen; der Eid kommt dem Hausherrn zu, die Rabbanan aber haben ihn dem Hausherrn genommen und dem Lohnarbeiter zugeschoben, wegen seines Lebensunterhaltes« (Bawa Mezia 112b).

Hier wird der Arbeitnehmer als der Schwächere geschützt und Gerechtigkeit als Voraussetzung für Effizienz gesehen, denn es sollen ja Beschäftigungsverhältnisse im Vertrauen eingegangen und so Dinge produziert und später konsumiert werden. Die Passage zeigt, dass den Rabbinen bewusst war, das Prinzip »Im Zweifel für den Beklagten« (wenn es keine Beweise gibt) umzukehren in: »Im Zweifel für den Schwächeren«. Der letzte Satz räumt in bemerkenswerter Weise ein, wie die Halacha nach geradezu modernen Prinzipien geändert wurde. Übertragen auf den Verbraucherschutz läge danach die ganze Beweislast bei Banken und Kundenberatern.

Folgt man den Ergebnissen der Stiftungen Warentest und Finanztest, schneiden alle Banken in Bezug auf ihre Kundenberatungen immer noch schlecht ab. Daran scheint auch die neue Pflicht, ausführlicher über den jeweiligen Gesprächsverlauf zu berichten, nicht viel geändert zu haben.

In den Niederlanden, Großbritannien und Australien gilt neuerdings ein Provisionsverbot für Bankberater. Damit entfällt das Interesse, ein bestimmtes Produkt zu puschen. Auch Vorschläge wie die der US-Senatorin Elisabeth Warren gehen in die richtige Richtung. Sie hat ein Verbraucherschutzamt für Finanzprodukte angeregt, das Normen für Finanzprodukte entwickelt. Sie sollen es den Kunden leichter machen, zu durchschauen, ob sie das jeweilige Produkt tatsächlich auch haben wollen. Ähnliche Gütesiegel fordern EU-Politiker.

Ethik Worum geht es dabei aus jüdischer Sicht? Mit dem »brauchen« muss die ethische und soziale Gemeinschaft verwirklicht werden, mit dem »ver-« jenes Mehr, das uns befähigt, eigenverantwortlich unser Leben zu gestalten. Das gilt für das Verbrauchen von Konsumgütern generell. Es gilt jedoch auch für Anlagegeschäfte bei Banken. Auf diesem Gebiet aber bewegt sich immer noch ein viel zu großer Bevölkerungsteil im Zustand einer – jüdisch gesehen: unethischen – Unmündigkeit.

Elisa Klapheck ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt/Main. Der Text entstand in Zusammenarbeit mit Abraham de Wolf, Vorsitzender des Vereins Torat HaKalkala zur Förderung der angewandten jüdischen Wirtschafts- und Sozialethik.